Osterbrief

„Den Frieden lasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch. Nicht gebe ich euch, wie die Welt gibt. Euer Herz erschrecke nicht und fürchte sich nicht.“ Johannes 14, 27

Liebe Schwestern und Brüder,
ich schreibe meinen ersten Brief an Sie in Zeiten des Ausnahmezustandes. Wir gehen auf das Osterfest zu und wissen nicht, wie wir es feiern sollen. Der Ausfall unserer Gottesdienste und Versammlungen war auch in den vergangenen Wochen schwer. Jetzt aber sind wir tief beunruhigt: Wie sollen wir am Gründonnerstag das Heilige Mahl halten? Werden wir die Passionsgeschichte allein lesen müssen? Auf welche Weise soll sich der Osterjubel ausdrücken?


Zugleich schauen wir täglich gebannt auf Infektionszahlen und hören furchtbare Berichte von überfüllten Krankenhäusern im Süden Europas.
Wir sind Umständen ausgesetzt, die wir uns nicht im Traume hätten vorstellen können.
Ich bitte Sie nun, mit mir einige Schritte zu gehen, um ein wenig zu verarbeiten, was uns gerade widerfährt.

Erschütterungen aushalten

„Bitte sorgen sie dafür, dass wir zu Ostern Gottesdienst feiern können!“ Diesen Wunsch höre und lese ich vielfach in diesen Tagen. Während die einen es in der Enge ihrer Wohnungen nur schwer miteinander aushalten und andere mit Blick auf die Wirtschaft das Ende des Shutdown herbeiwünschen, haben wir Christen (zusätzlich) Sehnsucht nach unseren Versammlungen. Alle zusammen teilen wir die Hoffnung, so schnell wie möglich in unser normales Leben zurückkehren zu können. Das verwundert keineswegs. Die Durchbrechung unserer Gewohnheiten löst tiefe Verunsicherung aus. Wir können im Moment auf keine Erfahrungen zurückgreifen und wissen daher nicht mit Bestimmtheit, was wir tun sollen. Das fängt schon mit der Einschätzung der Situation an. Wie gefährlich ist dieses Virus, das man nicht sehen kann und dessen Wirkung für die meisten auch nicht spürbar ist? Darf uns jemand verbieten, Gott in unseren Versammlungen zu loben, ohne damit den Bekenntnisfall auszulösen? Kann man den Medien vertrauen, über die alle ihre Informationen beziehen oder werden wir planmäßig hinters Licht geführt? Klar ist nur so viel: Jetzt geht es in erster Linie darum, die Ansteckungsquote zu verringern, um Menschenleben zu schützen oder gar zu retten.

Aber Covid 19 ist nicht die einzige Erschütterung, die uns gerade die Sicherheiten raubt. Noch sind wir am Verarbeiten der Krise, die uns im vergangenen Herbst getroffen hat, noch sind wir dabei zu verstehen, wie es zum Rücktritt unseres Landesbischofs Carsten Rentzing kommen konnte. Auch dieser Vorgang war und ist beispiellos. Gerade hatten wir angefangen uns gegenseitig zu erzählen, wie wir das erlebt haben und welche Konsequenzen daraus zu ziehen sind, da wird uns schon die nächste Herausforderung zugemutet.

Schließlich stecken wir mitten in den Anstrengungen der Umsetzung einer großen Strukturreform. Die ganze Landeskirche ist davon direkt oder indirekt betroffen. Das Ziel ist klar: Tragfähige Strukturen bis möglichst 2040 zu gewinnen. Der Weg dorthin jedoch ist unübersichtlich. Mühsam ordnen wir die neuen Verhältnisse. Über allem schwebt die Sorge, ob wir am Ende in den neuen Strukturen noch ein lebendiges Gemeindeleben vorfinden werden. Oft fehlt die konkrete Vorstellung, wie es in Zukunft gehen soll. Wir fahren auf Sicht und lernen auf dem Weg.

Wir sind also von vielen Seiten unter Druck und sehnen uns nach guten und geordneten Verhältnissen. Offensichtlich aber wird uns zugemutet, dass es jetzt nicht so ist. Wir sind Erschütterungen ausgesetzt und müssen sie zunächst einmal aushalten. Aushalten bedeutet für mich, den Tatsachen ins Auge zu schauen und schnellen Handlungsreflexen zu widerstehen. Aushalten verzichtet auf den vermeintlichen Befreiungsschlag und zieht sich dennoch nicht zurück. Aushalten heißt stehen und fest zu bleiben, um Orientierung zu gewinnen. Im biblischen Sprachgebrauch ist das Besonnenheit. Sie ist eine Frucht des Heiligen Geistes (2. Tim 1, 7). Sie wächst, wenn wir unter Druck in einer Haltung des Gottvertrauens bleiben. Sie wird reif, wenn wir die Überzeugung gewinnen, dass Gott der Herr der Lage ist, selbst wenn scheinbar alles aus dem Ruder läuft.

Frieden erfahren

Jesus Christus hinterlässt Frieden und gibt Frieden. Ich rätsle, warum das bei Johannes unterschieden wird. Steckt dahinter die Beobachtung, dass jede Gotteserfahrung zwar Frieden hinterlässt, dieser Frieden sich aber auch verflüchtigt und dann neu empfangen werden muss? Von mir kann ich jedenfalls sagen, dass ich tatsächlich an manchen Tagen felsenfest davon überzeugt bin, dass alles gut wird, weil Gott da ist. Wenig später aber kann ich in tiefe Zweifel stürzen, weil ein Problem übermächtig wird und das Licht der Gegenwart Gottes völlig verdunkelt. Frieden ist also kein gleichmäßiger dauerhafter Zustand. Er muss bewahrt und immer wieder neu errungen werden. Das betrifft den Herzensfrieden genauso wie den sozialen Frieden unter uns und den Frieden zwischen Völkern und Nationen. Frieden ist nie selbstverständlich da.

In der aktuellen Situation erlebe ich, dass viele Ehrenamtliche und Hauptberufliche den Stillstand im Bereich der Veranstaltungen dafür nutzen um neue Aktivitäten zu entfalten: LivestreamGottesdienste, Andachten, persönliche Worte, kleine YouTube-Videos… Fast in jeder Gemeinde wendet sich der Pfarrer oder ein Mitarbeitender regelmäßig online an die Gemeindemitglieder. Andachten können über Telefonnummern abgehört werden, es werden kleine Texte ausgedruckt und in Briefkästen gesteckt, Kirchen werden offen gehalten, Seelsorge wahrgenommen. Eine Fülle von Möglichkeiten eröffnet sich ganz neu. Das hilft, um in Kontakt zu bleiben und die Not als Chance zu begreifen. Ich bin davon sehr beeindruckt! Freilich hat das auch seine Schattenseiten. Geraten wir etwa in ein neues Leistungsdenken? Vor einiger Zeit bekannte mir ein Pfarrbruder kleinlaut, dass er noch keinen einzigen Gottesdienst aufgenommen und gestreamt habe und fragte, ob das in Ordnung sei.    

Es gilt also auch im Angesicht der neuen Möglichkeiten, im Frieden zu bleiben. Für einen Moment stillzuhalten, könnte uns dabei helfen, uns neu zu orientieren: Welche unserer Veranstaltungen brauchen wir wirklich und welche haben sich längst überlebt? Worauf wollen wir uns konzentrieren, wenn wieder alles möglich ist? Ich wünsche Ihnen in diesem Sinne eine produktive Nachdenklichkeit.

Sicherheiten loslassen

Irgendwann werden wir unser gewohntes soziales Leben wieder aufnehmen. Wir werden uns herzlich die Hände schütteln und uns umarmen, gewiss auch das Leben genießen. Nachgeholte Feiern werden uns besonders tief berühren. Eine Erfahrung aber wird uns bleiben: Unser Alltag kann von einem Tag auf den andern umgestürzt werden und das in Deutschland, einem der sichersten Länder dieser Welt. In uns wird zurückbleiben, dass das Leben immer gefährdet ist. Menschen in Not werden für uns nicht länger die anderen sein, die es eben getroffen hat. Wir werden neu wissen, was immer klar war. Diese Welt bietet nicht den Schutz und die Geborgenheit, die wir brauchen, um uns existentiell aufgehoben zu fühlen. Deshalb ist unser Leben ein Wandern durch diese Welt hindurch, wir sind auf dem Weg in das Reich Gottes.

Ich wünsche mir, dass das unseren Glauben verändert. Mutiger könnten wir werden, um das zu leben, was uns im Glauben an Jesus Christus wichtig geworden ist. So, wie wir jetzt neue Formen der Kommunikation aufnehmen, könnten wir auch in anderen Bereichen unserer Arbeit alternativ denken und handeln. Vielen von uns sind unterschiedlichste Aspekte dessen, was Jesus Christus als Merkmale des Reiches Gottes bezeichnet hat, wichtig. Einiges davon leben wir, anderes scheint nicht recht in unseren Gemeinde- und Lebensalltag zu passen. Dem Unpassenden Platz zu verschaffen, ist oftmals mit Unsicherheit verbunden. Wir wissen noch nicht, wie es sich bewähren wird. Wir haben Angst das Vertraute darüber zu verlieren. Werden wir jetzt risikofreudiger? „Kirche die weitergeht“ haben wir die „Initiative Missionarischer Aufbrüche“, mit der wir Pilotprojekte des Glaubens und der Gemeinschaft unterstützen, jetzt genannt. Darin drückt sich das Vertrauen aus, dass es mit der Kirche in jedem Falle weitergehen wird. Aber eben nicht nur im Sinne eines schlichten Fortführens. Grenzen sollen überschritten und Neues gewagt werden.   Festigkeit gewinnen

Das Leitwort für diesen Brief bezieht sich auf kommende Verunsicherungen und auf Enttäuschungen im Blick auf nicht erfüllte Erwartungen. Jesus Christus geht davon aus, dass es Ereignisse geben wird, die das Potenzial haben, uns tief zu erschüttern. Eine ältere Frau hat mir in diesen Tagen gesagt: „Es kann ganz schnell zu Ende gehen.“  

Deshalb stellt sich am Ende dieses Osterbriefes noch einmal die grundsätzliche Frage nach dem, was uns Halt geben kann.

Zum Dienstbeginn habe ich den kleinen Aufsatzband von Jürgen Moltmann „Wer ist Christus für uns heute?“ geschenkt bekommen. Ich lese ihn in ganz kurzen Absätzen und gewinne daraus Kraft und tiefe Einsicht. Besonders berührt mich, dass Moltmann alles, was unseren Glauben ausmacht und was uns irgendwie betreffen könnte, an der Person von Jesus Christus festmacht. Ich zitiere nur einen kleinen Abschnitt: „Untrennbar gehören beide zusammen: Jesus und das Reich Gottes, das Reich Gottes und Jesus. Jesus bringt das Reich Gottes auf seine einzigartige Weise zu uns Menschen und führt uns in die Weite und Schönheit des Reiches hinein. Und das Reich Gottes macht Jesus zum Christus, zum Heiland und zum Befreier für uns alle.“

Manches wird uns gerade genommen, anderes lernen wir neu schätzen. Es gibt viel Unsicherheit und manche Sorge. Erschüttert wird das, was erschüttert werden kann. Demgegenüber aber steht ein personaler Glaube. Wir sind nicht gegründet in den Lehrsätzen unserer Kirche. Auch unsere ganz persönlichen Erkenntnisse können in Belastungsproben wegbrechen. Die äußeren Verhältnisse des kirchlichen Lebens haben nicht die Verheißung, alle Zeiten zu überstehen und unser Stützen auf irdische Sicherheiten wird in der Krise bloßgestellt.

Jetzt kommt es mehr denn je darauf an, ob wir in Jesus Christus selbst gegründet sind. Die Verbindung mit seinem Leiden, Sterben und Auferstehen ist uns mit der Taufe längst geschenkt worden. Im Glauben ergreifen wir sie jetzt neu! Damit kann Ostern dieses Jahr zu einem besonderen Erlebnis werden: Wir vollziehen vorwegnehmend, dass nach der Krise ein neues Leben beginnt.

Dieses neue Leben wird nicht nur eine Rückkehr zum Gewohnten sein, sondern eine andere Qualität haben. Ich bin gespannt, wie sich das ausdrücken wird!
Liebe Schwestern und Brüder, mit diesen Zeilen wende ich mich nicht nur an die Pfarrerinnen und Pfarrer oder hauptberuflich bzw. ehrenamtlich Mitarbeitenden, sondern an alle Glieder unserer Landeskirche. Ich freue mich, dass wir im Glauben miteinander verbunden sind. Gemeinsam freuen wir uns über das, was wir an Segen erleben. Gemeinsam tragen wir auch dieSchwierigkeiten und Herausforderungen, die uns zugemutet werden. Ich danke Ihnen von Herzen für Ihre Treue zu unserer Kirche! Sie drückt sich darin aus, dass Sie einfach dabeibleiben, sich beteiligen, mit Ihren Möglichkeiten einbringen oder intensiv mitarbeiten.
Seien Sie an diesem besonderen Osterwochenende auch besonders gesegnet. Ich bete dafür, dass Sie dem Gekreuzigten und Auferstandenen begegnen.
Herzlich verbunden
Ihr
Tobias Bilz
Landesbischof

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Spruch des Tages